dies ist die deutsche Übersetzung eines Artikels von  M. Leila Srour und Denise Baratti-Mayer,

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STANDPUNKTE

Warum ist Noma eine vernachlässigte „vernachlässigte Tropenkrankheit“?


M. Leila Srour ID1 *,

Denise Baratti-Mayer ID2

1 Health Frontiers, Vientiane, Laos,

2 Institute of Global Health, University of Geneva, Geneva, Switzerland

* leila@butterflychildren.org


Zusammenfassung


Noma - eine Gangrän im orofazialen Bereich - befällt vor allem Kinder, die in extremer Armut in abseits gelegenen Regionen subtropischer und tropischer Länder leben. Sterblichkeit und Behinderung sind hoch, und die Überlebenden erleiden oft körperliche und funktionelle Deformationen, die zu Stigmatisierung und Isolation führen. Kenntnisse über Noma und seine Auswirkungen sind in diesen Risikogebieten bei vielen Angehörige der Gesundheitsberufe und Mitarbeitern der medizinischen Grundversorgung nicht vorhanden. Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens zur Verbesserung der Ernährung, Immunisierung, Verbesserung allgemeiner Hygiene und Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie Maßnahmen zur Beseitigung extremer Armut können zur Ausrottung von Noma führen. Die Zuweisung von Forschungsmitteln war bisher unzureichend um Epidemiologie, Behandlung und Vorbeugung von Noma zu untersuchen. In einem Editorial von Hotez und Kollegen in der PLOS Neglected Tropical Diseases (NTDs) [Public Library of Science „Vernachlässigte Tropenkrankheiten“] „Was definiert eine „vernachlässigte Tropenkrankheit?“ ist Noma nicht enthalten. Dieser Ausschluss von Noma von den NTDs definiert so diese vermeidbare Kinderkrankheit als eine vernachlässigte „Vernachlässigte Krankheit“. Die Absicht dieses Artikels besteht im Einschluss von Noma in die PLOS NTDs. Erhöhte Wahrnehmung und Beachtung von Noma kann zur Beseitigung dieser Krankheit führen, die die Verletzlichsten dieser Welt befällt.

Noma (cancrum oris) ist eine orofaziale Gangrän, eine opportunistische Infektion, die in erster Linie chronisch fehlernährte Kleinkinder befällt, die in extremer Armut und oft ohne Zugang zu medizinischer Versorgung leben [ 1 ]. Viele Angehörige der Gesundheitsberufe und Mitarbeiter der medizinischen Grundversorgung wissen nichts über Noma und würden die frühen Stadien, in denen eine Behandlung die Sterblichkeit verringert, nicht erkennen oder wären nicht in der Lage, einen Noma-Überlebenden zu überweisen [2,3 ]. Obwohl Noma die quintessentielle Inkarnation der vernachlässigten Tropenkrankheit (NTD) ist, erscheint Noma nicht im Verzeichnis der NTDs und bleibt eine vernachlässigte „vernachlässigte Tropenkrankheit“. In dem kürzlich erschienenen PLOS NTD-Editorial "What constitutes a neglected tropical disease?" ist Noma nicht erwähnt [4 ]. Das Ziel dieses Artikels ist es, Noma unter den „vernachlässigte Tropenkrankheiten“ einzureihen, vor allem hier bei PLOS NTD. Die Anerkennung von Noma als vernachlässigter Tropenkrankheit könnte die Wahrnehmung von Noma erhöhen und so Investitionen erreichen in die Erforschung seiner Ätiologie, Diagnose und Behandlung. Das würde zu Vorbeugung, frühzeitiger Erkennung und Ausrottung dieser vermeidbaren Kinderkrankheit führen, die gerade die weltweit verwundbarsten Kinder befällt.

Die Welt Gesundheits Organisation (WHO) definiert 4 Kriterien zum Einschluss in ihre Liste der „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ (NTDs): Erstens verursacht die Krankheit Stigma, Krankheit und Sterben verarmter Menschen. Zweitens tritt die Krankheit primär in tropischen oder subtropischen Regionen auf. Drittens sind Kontrolle und Ausrottung mit bekannten Public Health Strategien möglich. Viertens gab es bisher nur ungenügende Unterstützung für Forschung zur Bestimmung bester Behandlungs- und Kontrollmöglichkeiten. Noma erfüllt alle der oben genannten Kriterien.

Erstens tritt Noma vor allem in abgelegenen Regionen auf und befällt dort Kleinkinder, die in extremer Armut leben. Noma wird auch als „Gesicht der Armut“ [5] bezeichnet, weil die Krankheit vor allem die Gesichter von Kindern, die in extremer Armut leben, schwer schädigt. Das illustriert so einzigartig das schwere Leben von Kindern, wenn ihren Eltern die hinreichenden Resourcen fehlen, ihre Kinder angemessen zu ernähren. Unbehandelt ist die Mortalität hoch (80% bis 90%), Überlebende sind oft schwerwiegend von Gesichtsdeformierungen befallen, die Schwierigkeiten beim Essen, beim Sprechen, im Aussehen verursachen, was zu Stigmatisierung und Isolation führt [1,5 ]. Nomaüberlebende werden häufig diskriminiert und sind nicht in der Lage, Schulen zu besuchen, am Sozialleben teilzunehmen, zu heiraten oder Arbeit zu finden [6]. Häufig nach jahrzehntelangem Leiden erscheinen Nomaüberlebende mit ihrer Suche nach chirurgischer Rehabilitation, nachdem ihnen Zugang zu Erziehung, Beruf, Ehe und soziale Akzeptanz verwehrt wurde. Chirurgische Behandlung Überlebender ist schwierig, braucht erfahrene chirurgische Teams und ist normalerweise für Nomaüberlebende nicht zu erlangen.

Zweitens wird über Noma in erster Linie aus armen Entwicklugsländern in Afrika und Asien berichtet, aber Noma kann überall dort auftreten, wo die Risikofaktoren vorhanden sind. Zu diesen Risikofaktoren gehören extreme Armut, Fehlernährung, keine Möglichkeit zur ausschliesslichen Ernährung mit Muttermilch, kein Zugang zu medizinischer Pflege und Immunisierung, Unterernährung der oft kinderreichen Mütter, fiebrige Vorerkrankungen (besonders Masern und Malaria), schlechte Mundgesundheit und nur wenig gemischte orale Bakterienflora [1,7 ].

Drittens: Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit (z.B. die Förderung des ausschließlichen Stillens), angemessene Beikost, ausreichende Vitamine, Impfungen, sanitäre Einrichtungen und Zugang zur Gesundheitsversorgung führen zur Vorbeugung, Erkennung und frühzeitigen Behandlung von Noma und den Folgen dieser Erkrankung. Die Risikofaktoren für Noma sind die selben wie für die üblichen „vernachlässigten Tropenkrankheiten“, die häufig dort auftreten, wo auch Noma gefunden wird. Top Down nur auf Noma zielende Programme werden wohl ineffektiv sein. Noma dort einzuordnen, wo es hingehört - in den Kreis der Armutskrankheiten - kann den Kreislauf der Vernachlässigung durchbrechen.

Viertens hat sich Forschung in Bezug auf Epidemiologie, Diagnose, Behandlung und Vorsorge als ungenügend zielfuehrend erwiesen zur Kontrolle und Ausmerzung. Finanzierung und Einführung von Massnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens könnten zum Verschwinden von Noma führen [8].

Krankheitslasten durch Noma
Im Jahr 1998 ging die WHO von einem geschätzten Auftreten von 140,000 Fällen weltweit aus und 770 000 Überlebenden mit schweren Krankheitsfolgen [9 ]. Eine jährliche Inzidenz zwischen 30 000 und 40 000 könnte eine bessere Schätzung sein angesichts von Methodologie und Schwierigkeit eine Krankheit zu erfassen, über die in ihren akuten Phasen nur selten berichtet wird [8, 10].

Eine Gruppe vom Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH) errechnete „behinderungsbezogene Lebensjahre“ „disability adjusted life years“ (DALYs) unter Verwendung eines vereinfachten Krankheitsmodells mit Gewichtung kleinerer und grösserer Krankheitsfolgen und Tod. Erste Ergebnisse dieser Studie über die globalen Krankheitskosten von Noma (von Sophie Haesen und Kollegen) schätzten 1 bis 10 Millionen DALYs Verlust wegen Noma. Dies ist der erste weltweite Versuch, den Einfluss von Noma zu schätzen [11]. Die große Bandbreite ergibt sich aus Unsicherheiten über Inzidenz, Mortalität und chirurgische Rehabilitation. Die 2010 durchgeführte Studie über die globalen Krankheitslasten ermöglichte einen Vergleich der relativen Auswirkungen von NTDs. Die durch NTDs verursachten geschätzten DALYs schwankten zwischen 0,14 und 3,32 Millionen Jahren. Auch wenn also die geschätzte Krankheitslast durch Noma vergleichbar ist, wurde Noma nicht berücksichtigt [12].

Warum wird Noma vernachlässigt? 1649 wurde Noma aufgenommen in ein Lehrbuch über vernachlässigte Krankheiten: von Arnoldus Bootius mit dem Titel"Observationes Medicae de Affectibus Omissis". Noma betraf kleine Kinder in Europa und Nordamerika bis in das frühe 20. Jahrhundert als Fortschritte im Gesundheitswesen und die wirtschaftliche Entwicklung zum Verschwinden von Noma führten [1] bis es dann im Zweiten Weltkrieg in Konzentrationslagern wieder auftauchte [13]. Heutzutage befällt Noma die ärmsten Kinder in abgelegenen Gebieten, in denen es keine Aufzeichnungen über Geburten oder Todesfälle gibt. Mitarbeiter der medizinischen Grundversorgung und traditionelle Heiler erkennen Noma oft nicht. [3, 14]. Noma wird weder in der westlichen Welt noch in den betroffenen Ländern an den medizinischen Fakultäten gelehrt. Noma-Überlebende bleiben durch Armut und soziale Stigmatisierung isoliert [6 ].

Nationale Vernachlässigung von Noma resultiert aus der hohen Sterblichkeit ohne Dokumentation. Überlebende bleiben im Verborgenen während Schätzungen zufolge nur 10 bis 15 % der Überlebenden eine Behandlung aufsuchen[6 ]. Da Noma ein "biologischer Indikator für extreme Armut" [5 ] ist, ziehen es politische und gesundheitliche Behörden möglicherweise vor, Noma und seine Bedeutung zu ignorieren. Es werden möglicherweise keine Anstrengungen unternommen, um Inzidenz und Mortalität von Noma zu ermitteln und zu dokumentieren.

Die Nichtberücksichtigung von Noma in den Listen der „vernachlässigten Tropenkrankheiten“ (NTDs) führt zu internationaler Vernachlässigung aufgrund mangelnden Bewusst-seins und Wissens. Noma ist nicht übertragbar, führt also weder zur Alarmierung wegen ansteckender Krankheiten noch bedroht es entwickelte Länder. Außerdem findet Noma kein Interesse bei Pharmakonzernen, da die akute Phase mit preiswerten Antibiotika behandelt werden kann.

2012 veröffentlichte der Beratende Ausschuss des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen eine Studie über schwere Unterernährung und Kinderkrankheiten am Beispiel von Kindern, die von Noma betroffen sind. Im Ergebnis wurde festgestellt, dass Noma eine der schlimmsten Verletzungen grundlegender Menschenrechte ist und auf globaler Ebene angegangen und offiziell in die WHO-Liste der NTDs aufgenommen werden sollte [15]. Wir appellieren an PLOS NTDs (Public Library of Science „vernachlässigte Tropenkrankheiten“). Noma in ihre Liste der NTDs aufzunehmen. In den letzten zehn Jahren hat PLOS NTDs sieben wichtige Artikel mit Noma als Hauptthema veröffentlicht. Die Aufnahme von Noma in die PLOS NTDs-Liste wird das Bewusstsein für diese Krankheit schärfen, die Forschung fördern und die Ausrottung dieser vernachlässigten Kinderkrankheit vorantreiben. Noma-Überlebende sind eine schockierende Erinnerung an die ständige Vernachlässigung der in extremer Armut lebenden weltweit Verwundbarsten.


Referenzen
 
1. Enwonwu CO, Falkler WA, Phillips RS. Noma (cancrum oris). Lancet Lond Engl. 2006; 368: 147–156. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(06)69004-1
 
2. Farley E, Bala HM, Lenglet A, Mehta U, Abubakar N, Samuel J, et al. ‘I treat it but I don’t know what this disease is’: a qualitative study on noma (cancrum oris) and traditional healing in northwest Nigeria. Int Health. 2020; 12: 28–35. https://doi.org/10.1093/inthealth/ihz066 PMID: 1504549
 
3. Brattström-Stolt L, Funk T, Sie´ A, Ndiaye C, Alfve´n T. Noma—knowledge and practice competence among primary healthcare workers: a cross-sectional study in Burkina Faso. Int Health. 2019; 11: 290–296. https://doi.org/10.1093/inthealth/ihy088 PMID: 30561632

4. Hotez PJ, Aksoy S, Brindley PJ, Kamhawi S. What constitutes a neglected tropical disease? Carvalho EM, editor. PLoS Negl Trop Dis. 2020; 14: e0008001. https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0008001 PMID: 31999732
 
5. Marck K. Noma the Face of Poverty. MIT-Verlag GmbH Hannover; 2003.
 
6. Srour ML, Marck KW, Baratti-Mayer D. Noma: neglected, forgotten and a human rights issue. Int Health. 2015;
 
7. 149–150. https://doi.org/10.1093/inthealth/ihv001 PMID: 25609756 7. Huyghe A, Franc¸ois P, Mombelli A, Tangomo M, Girard M, Baratti-Mayer D, et al. Microarray Analysis of Microbiota of Gingival Lesions in Noma Patients. Small PLC, editor. PLoS Negl Trop Dis. 2013; 7: e2453. https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0002453 PMID: 24086784
 
8. Srour ML, Marck K, Baratti-Mayer D. Noma: Overview of a Neglected Disease and Human Rights Violation. Am J Trop Med Hyg. 2017; 96: 268–274. https://doi.org/10.4269/ajtmh.16-0718 PMID: 28093536
 
9. World Health Organization, editor. The World Health Report 1998: life in the 21st century. Geneva:WHO; 1998.
 
10. Fieger A, Marck KW, Busch R, Schmidt A. An estimation of the incidence of noma in north-west Nigeria. Trop Med Int Health. 2003; 8: 402–407. https://doi.org/10.1046/j.1365-3156.2003.01036.x PMID:12753633 PLOSNEGLECTED TROPICAL DISEASES PLOS Neglected Tropical Diseases https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0008435 August 20, 2020 3/4

11. Haesen S, Fürst T, Utzinger J. Noma: epidemiology and global burden of a neglected disease. Poster presented at: 23rd Annual Conference of the International Society of Exposure Science 2013; 2013 Aug 19; Basel, Switzerland.
 
12. Hotez PJ, Alvarado M, Basa´ñez M-G, Bolliger I, Bourne R, Boussinesq M, et al. The Global Burden of Disease Study 2010: Interpretation and Implications for the Neglected Tropical Diseases. de Silva N, editor. PLoS Negl Trop Dis. 2014; 8: e2865. https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0002865 PMID: 25058013

13. Adelsberger L. Medical observations in Auschwitz concentration camp. Lancet Lond Engl. 1946; 1:317–319. https://doi.org/10.1016/s0140-6736(46)91406-7
 
14. Baratti-Mayer D, Baba Daou M, Gayet-Ageron A, Jeannot E, Pittet-Cue´nod B. Sociodemographic Char-acteristics of Traditional Healers and Their Knowledge of Noma: A Descriptive Survey in Three Regions of Mali. Int J Environ Res Public Health. 2019; 16: 4587. https://doi.org/10.3390/ijerph16224587 PMID:31752451

15. Study of the Human Rights Council Advisory Committee on severe malnutrition and childhood diseases with children affected by noma as an example. United Nations, General Assembly, Human Rights Council Advisory Committee, Eighth Session; 2012 Feb. Report No.: /HRC/AC/8/7. https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G12/102/15/PDF/G1210215.pdf PLOS NEGLECTED TROPICAL DISEASES PLOS Neglected Tropical Diseases https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0008435 August 20, 2020 4/4

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